Bushcamper
24.09.2007, 21:16
Vier Rudel, 35 Tiere, jedes von ihnen frisst 62 Rehe im Jahr. 27 Schafe sind auch tot. Das macht zusammen: Streit und Angst in der Lausitz.
SPREMBERG - Die Jagd war erfolgreich, aber sie hat Kraft gekostet. Erschöpft kehrt die Wölfin zu ihren Welpen zurück. Ein leises Heulen, schon kommen die fünf aus der Kiefernschonung. Sie würgt, ein Fleischbrocken fällt auf den Boden, der stärkste Welpe stürzt sich darauf. Noch viermal würgt die Wölfin, dann sind alle versorgt. Sie schläft neben ihnen ein.
Stundenlang schon sitzt der Bundesumweltminister Sigmar Gabriel auf einem Hochsitz des Truppenübungsplatzes Oberlausitz. Aber kein Wolf ist zu sehen, Gabriel ist enttäuscht. Da beginnt Ilka Reinhardt zu heulen. Sie ist Biologin und hat das lange geübt. Kurze Zeit später stolpern fünf Welpen auf die Lichtung. Seither gilt Sigmar Gabriel als Deutschlands größter Wolfsfreund.
Immerhin hat er an jenem Juniabend des Jahres 2006 in der Muskauer Heide ein kleines Wunder gesehen: wild lebende Wölfe, die in Deutschland lange als ausgestorben galten. Wölfe, die hier sogar geboren wurden – ganz in der Nähe der sächsischen Stadt Hoyerswerda, wo im Jahr 1904 der offiziell letzte deutsche Wolf geschossen worden war. Und vor einigen Wochen ist so etwas nun wieder passiert.
"Mitten im Dorf"
„Von wegen Wunder“, sagt Bernhard Kerger. „Hier haben alle Angst. Es ist ein Unterschied, ob man in Berlin oder Dresden im Ministerium sitzt und sich über die Rückkehr der Wölfe freut oder ob man da lebt, wo sie um das eigene Haus schleichen.“ Kerger ist Schmied und wohnt in Neusorge, einem 150-Einwohner-Dorf, das zur östlichsten Stadt Deutschlands gehört: Rothenburg an der Neiße. In der Nacht zum 9. März dieses Jahres haben einige Neusorger seltsame Geräusche vernommen. Als es hell wurde, kam das ganze Dorf zusammengelaufen. War kein schöner Anblick: die zerfetzte, halb aufgefressene Hirschkuh, die 70 Meter von der Dorfstraße entfernt auf der Wiese lag.
„Mitten im Dorf“, hat eine Zeitung geschrieben. Und die Neusorger machen sich seither so ihre Gedanken: „Wenn ich abends in den Hof fahre, schaue ich mich genau um, bevor ich aussteige“, sagt Annett Engelmann, eine Krankenschwester: „Viele sorgen sich um kleine Kinder, ich mehr um die Teenager, die abends mit dem Rad durch den Wald zur Disko fahren. Mag sein, dass Wölfe gewöhnlich nichts tun. Aber was ist, wenn man ihnen begegnet und sie frische Beute dabeihaben?“
„Schon passiert“, sagt Ilka Reinhardt. „Die Wölfe haben sich dann sofort zurückgezogen. Wie andere Wildtiere laufen aber auch sie nachts an Dörfern vorbei, sie kommen ihnen nahe, aber sie begegnen da ja normalerweise auch niemandem.“
Ilka Reinhardt, 41, begleitet gemeinsam mit ihrer Kollegin Gesa Kluth seit Jahren die Rückkehr der Wölfe in die Lausitz. Die Biologinnen sind als „Wolfsfrauen“ in der Gegend bekannt. In ihrem Büro in Spreewitz bei Spremberg stapeln sich kleine Glasröhrchen mit einer auf den ersten Blick undefinierbaren Masse. „Wolfslosungen“, sagt Ilka Reinhardt: „Wir schicken den Kot zur genetischen Untersuchung nach Polen, um etwas über die Abstammung der Tiere zu erfahren.“
„Wölfe laufen im geschnürten Trab“
Die Lausitzer Wölfe sind Mitte der 90er Jahre aus Westpolen eingewandert. Zuvor war hin und wieder ein einsamer Wolf durchgezogen. Aber jener Rüde, der 1995 in der Muskauer Heide gesichtet wurde, blieb. 1998 gesellte sich eine Wölfin zu ihm. Im Jahr 2000 wurden auf den Truppenübungsplatz Oberlausitz sechs Tiere gezählt – das Paar hatte Welpen aufgezogen.
2005 gab es ein zweites Rudel, das ebenfalls auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz blieb. „Die Tiere fühlen sich hier offenbar sicher“, sagt Ilka Reinhardt. Dabei finden auf dem 16 000 Hektar großen Gelände oft Schießübungen statt. Das scheint die Wölfe aber ebenso wenig zu stören wie das nahe gelegene Braunkohlekraftwerk Boxberg.
Ilka Reinhardt fährt mit ihrem Allradauto oft den Übungsplatz ab. „Hier – das ist eine typische Wolfsspur.“ Die Abdrücke im Sand bilden eine nahezu gerade Linie. „Wölfe laufen im geschnürten Trab“, sagt sie, „sie setzen ihre Hinterpfoten genau in die Abdrücke ihrer Vorderpfoten. Ein Hund tut das nur selten.“
Das sicherste Zeichen für die Anwesenheit von Wölfen aber ist ihr Kot. Ilka Reinhardt erkennt ihn schon aus zehn Metern Entfernung. Abrupt bremst sie ihr Auto, springt heraus: „Ganz frisch.“ Wolfskot hat wenig Ähnlichkeit mit Hundehaufen. Das liegt an den bis zu vier Zentimeter großen Knochenstücken, Fell und Borsten. „Der hat einen Frischling mit Haut und Haaren gefressen“, sagt Ilka Reinhardt.
Wölfe gehen Menschen aus dem Weg
Die Wölfe selbst bekommt auch sie nur selten zu Gesicht – obwohl es in der Lausitz inzwischen vier Rudel mit schätzungsweise 35 Tieren gibt. Irgendwann, erzählt sie, sei ihr der Geduldsfaden gerissen. „Da war ich schon eineinhalb Jahre hier und hatte noch keinen Wolf gesehen.“ Also setzte sie sich eines Morgens auf einen Sandweg, wo viele Spuren waren: „Ich schwor mir, sitzen zu bleiben, bis einer erscheinen würde.“ 15 Minuten später kam er.
Der Wolf trabt vor sich hin, den Kopf leicht gesenkt. Der Geruch, der ihm plötzlich in die Nase steigt, signalisiert ihm die Nähe eines Menschen. Er hebt den Kopf, schnüffelt. Das Wesen etwa 100 Meter vor ihm steht zwar nicht auf zwei Beinen, stinkt aber trotzdem nach Mensch. Der Wolf zögert einige Sekunden. Dann schlägt er einen Bogen und läuft weiter.
Dass Wölfe dem Menschen aus dem Weg gehen, sei typisch, sagt Ilka Reinhardt. In Wahrheit seien sie nämlich Hasenfüße. Oder besser gesagt: Weil Wölfe in der Regel wehrhafte Tiere wie Wildschweine und Rothirsche jagen, sind sie grundsätzlich sehr vorsichtig, es ist angeboren. Es hilft ihnen zu überleben. Deshalb zögern sie auch nicht, wenn sie auf Tiere treffen, die leichter zu erbeuten sind. Schafe zum Beispiel.
"So töten nur Wölfe"
Als Frank Neumann, 59, Schäfer, am Morgen des 30. April 2002 zu seiner Herde in Mühlrose bei Spremberg kam, lagen 27 seiner Tiere tot im Gras. „Alle verendet durch saubere Drosselgriffe“, sagt Neumann: „So töten nur Wölfe – ein gezielter Biss in die Kehle, der die Schlagader abdrückt.“
Der Vorfall von Mühlrose machte der sächsischen Landesregierung klar, dass es ein „Wolfsmanagement“ geben musste, wenn die Bevölkerung die Rückkehr der Wölfe akzeptieren sollte. Ilka Reinhardt und Gesa Kluth wurden die ersten „Wolfsbeauftragten“ und gründeten das Wildbiologische Büro Lupus. Sie berieten auch den Schäfer Frank Neumann, der vom Land Sachsen eine Entschädigung für seine gerissenen Tiere erhielt.
„Jäger bekommen keine Entschädigung“, sagt Joachim Bachmann bitter. Der 74-Jährige ist Jäger und hat sich bei Hoyerswerda viel Wald gekauft. Doch seit die Wölfe da sind, gebe es immer weniger Wild, sagt er. Und es sei schwerer zu schießen. Wildschweine seien sonst in kleinen Gruppen aus den Wäldern gekommen. Jetzt rotten sich aus Angst vor den Wölfen bis zu 60 Tiere zusammen, da könne ein Jäger nicht einfach draufhalten. Schließlich dürfe er zu bestimmten Zeiten nur bestimmte Tiere schießen. „Wir jagen ja im Gegensatz zum Wolf waidgerecht“, sagt Bachmann. „Der jagt nur, um zu fressen.“
Der Wolf wartet, bis der Vollmond hinter einer Wolke verschwindet. Dann pirscht er sich näher an die Wildschweine heran. Endlich entfernt sich ein Frischling etwas von der Gruppe. Der Wolf hat keine Zeit für den Drosselgriff, er schlägt dem Frischling die Zähne in den Rücken und rennt mit dem quiekenden Tier davon. Drei Bachen nehmen sofort die Verfolgung auf.
Jäger Bachmann hat buschige Brauen, einen mächtigen Körper, trägt das Hemd über der Brust geöffnet. Der ganze „Schwachsinn mit den Wölfen“ sei Volksverdummung, sagt er. Es habe hier immer Wölfe gegeben – in der DDR seien sie konsequent geschossen worden –, aber nie hätten sich die Tiere angesiedelt. Bachmann senkt die Stimme. „Wenn da keiner nachgeholfen hat“, sagt er, „fress’ ich drei Besen.“
"Das Wild gehört nicht den Jägern"
Immer wieder bekommt man im Wolfsgebiet zwischen Spremberg, Bautzen, Görlitz und Bad Muskau hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass Gesa Kluth und Ilka Reinhardt die Wölfe hier angesiedelt hätten. Oder dass die Tiere auf dem Truppenübungsplatz gefüttert worden seien, um sie hier zu halten. Oder dass es sich gar nicht um Wölfe, sondern um Hybriden – Mischlinge – handele, die besonders gefährlich für Menschen seien. Tatsächlich hatte sich 2001 eine Wölfin mit einem Schäferhund gepaart und vier Junge großgezogen. Zwei verschwanden, zwei wurden eingefangen und starben später.
Jäger Bachmann hat einen Verein gegründet: Sicherheit und Artenschutz. Der Verein hat im vergangenen Jahr angebliche – sagt Ilka Reinhardt – Wolfsexperten aus aller Welt eingeladen. Die haben bestätigt, was ihr Gastgeber vermutete: Wenn die Wölfe nicht bejagt würden, verlören sie ihre natürliche Scheu vor den Menschen. Joachim Bachmann war schon 2004 vor Gericht gegangen. Er hatte darauf geklagt, einen Wolf schießen zu können. Einen einzigen, um die Bevölkerung zu schützen. Aber das Verwaltungsgericht Dresden war der Meinung, dass Bachmann nicht für den Schutz der Bevölkerung zuständig sei.
Muss die Bevölkerung geschützt werden? Laut Studie eines norwegischen Instituts gab es zwischen 1950 und 2000 in Europa neun tödliche Angriffe von Wölfen auf Menschen. In fünf Fällen waren die Tiere tollwütig.
„Experten sind sich einig, dass Wölfe die Menschen meiden, wenn Lebensraum und Nahrung ausreichen“, sagt Jana Schellenberg: „Es gibt nur zwei Risikofaktoren: die Tollwut, die in Deutschland nur noch selten auftritt. Und das Anfüttern der Tiere.“ Deshalb würden alle Hinweise aus der Bevölkerung über das Verhalten der Wölfe sorgfältig registriert. Sollten sich Auffälligkeiten zeigen, könne man sofort reagieren.
Die Kinder kennen Rotkäppchen nicht. Das ist erfreulich
Jana Schellenberg, 28, leitet das Kontaktbüro Wolfsregion Lausitz in Rietschen bei Weißwasser. Sie ist Forstwirtin, organisiert Exkursionen ins Wolfsgebiet und führt Touristen durch ein kleines Wolfsmuseum. Sie hält Vorträge in Dörfern, Schulen, auch bei den Jägern. „Natürlich ist die Jagd für sie schwerer geworden“, sagt sie. Ein Lausitzer Wolf frisst im Jahr durchschnittlich 62 Rehe, 9 Rothirsche und 14 Wildschweine. Aber die 35 Wölfe leben auf einem Gebiet von gut tausend Quadratkilometern. „Und das Wild gehört nicht den Jägern“, sagt Jana Schellenberg, „auch nicht, wenn sie Pacht bezahlen, um es jagen zu dürfen.“
Eine Museumsbesucherin fragt ihre Kinder, welches Märchen auf dem Bild neben der Eingangstür dargestellt ist. Es ist Rotkäppchen, die Kinder kennen es nicht, und Jana Schellenberg freut sich: „Dann haben sie auch keine Vorurteile.“
Für das, was sie tut, hat sie schon Morddrohungen erhalten. „Erst bringen wir die Fähen – die weiblichen Wölfe – um, dann sind die grünen Weiber dran“, stand in einem Brief an Jana Schellenberg. Auch Jäger Bachmann hat Drohungen erhalten: „Sieh dich vor, du Tiermörder!“
Die junge Wölfin läuft am Waldrand entlang. Vor kurzem hat sie sich vom Rudel getrennt, nun durchstreift sie die Rochauer Heide vor den Toren Luckaus, 80 Kilometer südlich von Berlin. Zwar ist ihr noch kein Rüde begegnet, aber bis zur Paarung im Februar sind es noch einige Monate. Die Wölfin weiß nicht, dass in diesem Moment wenige Meter von ihr entfernt ein Mensch den Zeigefinger beugt.
„Der Schuss hat sie nicht sofort getötet“, sagt Ilka Reinhardt, als sie den Obduktionsbericht der Mitte August bei Luckau gefundenen Wölfin erhält: „Sie hat sich noch ins Dickicht geschleppt.“ Erst die genetische Untersuchung wird klären, ob sie zu einem heimischen Rudel gehörte. Die Wahrscheinlichkeit sei groß, sagt Ilka Reinhardt. Die Wölfin war 15 Monate alt. Gut möglich, dass es sich bei dem Tier um einen der Welpen handelte, die Sigmar Gabriel im Juni letzten Jahres so faszinierten.
Quelle: tagesspiegel.de/
SPREMBERG - Die Jagd war erfolgreich, aber sie hat Kraft gekostet. Erschöpft kehrt die Wölfin zu ihren Welpen zurück. Ein leises Heulen, schon kommen die fünf aus der Kiefernschonung. Sie würgt, ein Fleischbrocken fällt auf den Boden, der stärkste Welpe stürzt sich darauf. Noch viermal würgt die Wölfin, dann sind alle versorgt. Sie schläft neben ihnen ein.
Stundenlang schon sitzt der Bundesumweltminister Sigmar Gabriel auf einem Hochsitz des Truppenübungsplatzes Oberlausitz. Aber kein Wolf ist zu sehen, Gabriel ist enttäuscht. Da beginnt Ilka Reinhardt zu heulen. Sie ist Biologin und hat das lange geübt. Kurze Zeit später stolpern fünf Welpen auf die Lichtung. Seither gilt Sigmar Gabriel als Deutschlands größter Wolfsfreund.
Immerhin hat er an jenem Juniabend des Jahres 2006 in der Muskauer Heide ein kleines Wunder gesehen: wild lebende Wölfe, die in Deutschland lange als ausgestorben galten. Wölfe, die hier sogar geboren wurden – ganz in der Nähe der sächsischen Stadt Hoyerswerda, wo im Jahr 1904 der offiziell letzte deutsche Wolf geschossen worden war. Und vor einigen Wochen ist so etwas nun wieder passiert.
"Mitten im Dorf"
„Von wegen Wunder“, sagt Bernhard Kerger. „Hier haben alle Angst. Es ist ein Unterschied, ob man in Berlin oder Dresden im Ministerium sitzt und sich über die Rückkehr der Wölfe freut oder ob man da lebt, wo sie um das eigene Haus schleichen.“ Kerger ist Schmied und wohnt in Neusorge, einem 150-Einwohner-Dorf, das zur östlichsten Stadt Deutschlands gehört: Rothenburg an der Neiße. In der Nacht zum 9. März dieses Jahres haben einige Neusorger seltsame Geräusche vernommen. Als es hell wurde, kam das ganze Dorf zusammengelaufen. War kein schöner Anblick: die zerfetzte, halb aufgefressene Hirschkuh, die 70 Meter von der Dorfstraße entfernt auf der Wiese lag.
„Mitten im Dorf“, hat eine Zeitung geschrieben. Und die Neusorger machen sich seither so ihre Gedanken: „Wenn ich abends in den Hof fahre, schaue ich mich genau um, bevor ich aussteige“, sagt Annett Engelmann, eine Krankenschwester: „Viele sorgen sich um kleine Kinder, ich mehr um die Teenager, die abends mit dem Rad durch den Wald zur Disko fahren. Mag sein, dass Wölfe gewöhnlich nichts tun. Aber was ist, wenn man ihnen begegnet und sie frische Beute dabeihaben?“
„Schon passiert“, sagt Ilka Reinhardt. „Die Wölfe haben sich dann sofort zurückgezogen. Wie andere Wildtiere laufen aber auch sie nachts an Dörfern vorbei, sie kommen ihnen nahe, aber sie begegnen da ja normalerweise auch niemandem.“
Ilka Reinhardt, 41, begleitet gemeinsam mit ihrer Kollegin Gesa Kluth seit Jahren die Rückkehr der Wölfe in die Lausitz. Die Biologinnen sind als „Wolfsfrauen“ in der Gegend bekannt. In ihrem Büro in Spreewitz bei Spremberg stapeln sich kleine Glasröhrchen mit einer auf den ersten Blick undefinierbaren Masse. „Wolfslosungen“, sagt Ilka Reinhardt: „Wir schicken den Kot zur genetischen Untersuchung nach Polen, um etwas über die Abstammung der Tiere zu erfahren.“
„Wölfe laufen im geschnürten Trab“
Die Lausitzer Wölfe sind Mitte der 90er Jahre aus Westpolen eingewandert. Zuvor war hin und wieder ein einsamer Wolf durchgezogen. Aber jener Rüde, der 1995 in der Muskauer Heide gesichtet wurde, blieb. 1998 gesellte sich eine Wölfin zu ihm. Im Jahr 2000 wurden auf den Truppenübungsplatz Oberlausitz sechs Tiere gezählt – das Paar hatte Welpen aufgezogen.
2005 gab es ein zweites Rudel, das ebenfalls auf dem Truppenübungsplatz Oberlausitz blieb. „Die Tiere fühlen sich hier offenbar sicher“, sagt Ilka Reinhardt. Dabei finden auf dem 16 000 Hektar großen Gelände oft Schießübungen statt. Das scheint die Wölfe aber ebenso wenig zu stören wie das nahe gelegene Braunkohlekraftwerk Boxberg.
Ilka Reinhardt fährt mit ihrem Allradauto oft den Übungsplatz ab. „Hier – das ist eine typische Wolfsspur.“ Die Abdrücke im Sand bilden eine nahezu gerade Linie. „Wölfe laufen im geschnürten Trab“, sagt sie, „sie setzen ihre Hinterpfoten genau in die Abdrücke ihrer Vorderpfoten. Ein Hund tut das nur selten.“
Das sicherste Zeichen für die Anwesenheit von Wölfen aber ist ihr Kot. Ilka Reinhardt erkennt ihn schon aus zehn Metern Entfernung. Abrupt bremst sie ihr Auto, springt heraus: „Ganz frisch.“ Wolfskot hat wenig Ähnlichkeit mit Hundehaufen. Das liegt an den bis zu vier Zentimeter großen Knochenstücken, Fell und Borsten. „Der hat einen Frischling mit Haut und Haaren gefressen“, sagt Ilka Reinhardt.
Wölfe gehen Menschen aus dem Weg
Die Wölfe selbst bekommt auch sie nur selten zu Gesicht – obwohl es in der Lausitz inzwischen vier Rudel mit schätzungsweise 35 Tieren gibt. Irgendwann, erzählt sie, sei ihr der Geduldsfaden gerissen. „Da war ich schon eineinhalb Jahre hier und hatte noch keinen Wolf gesehen.“ Also setzte sie sich eines Morgens auf einen Sandweg, wo viele Spuren waren: „Ich schwor mir, sitzen zu bleiben, bis einer erscheinen würde.“ 15 Minuten später kam er.
Der Wolf trabt vor sich hin, den Kopf leicht gesenkt. Der Geruch, der ihm plötzlich in die Nase steigt, signalisiert ihm die Nähe eines Menschen. Er hebt den Kopf, schnüffelt. Das Wesen etwa 100 Meter vor ihm steht zwar nicht auf zwei Beinen, stinkt aber trotzdem nach Mensch. Der Wolf zögert einige Sekunden. Dann schlägt er einen Bogen und läuft weiter.
Dass Wölfe dem Menschen aus dem Weg gehen, sei typisch, sagt Ilka Reinhardt. In Wahrheit seien sie nämlich Hasenfüße. Oder besser gesagt: Weil Wölfe in der Regel wehrhafte Tiere wie Wildschweine und Rothirsche jagen, sind sie grundsätzlich sehr vorsichtig, es ist angeboren. Es hilft ihnen zu überleben. Deshalb zögern sie auch nicht, wenn sie auf Tiere treffen, die leichter zu erbeuten sind. Schafe zum Beispiel.
"So töten nur Wölfe"
Als Frank Neumann, 59, Schäfer, am Morgen des 30. April 2002 zu seiner Herde in Mühlrose bei Spremberg kam, lagen 27 seiner Tiere tot im Gras. „Alle verendet durch saubere Drosselgriffe“, sagt Neumann: „So töten nur Wölfe – ein gezielter Biss in die Kehle, der die Schlagader abdrückt.“
Der Vorfall von Mühlrose machte der sächsischen Landesregierung klar, dass es ein „Wolfsmanagement“ geben musste, wenn die Bevölkerung die Rückkehr der Wölfe akzeptieren sollte. Ilka Reinhardt und Gesa Kluth wurden die ersten „Wolfsbeauftragten“ und gründeten das Wildbiologische Büro Lupus. Sie berieten auch den Schäfer Frank Neumann, der vom Land Sachsen eine Entschädigung für seine gerissenen Tiere erhielt.
„Jäger bekommen keine Entschädigung“, sagt Joachim Bachmann bitter. Der 74-Jährige ist Jäger und hat sich bei Hoyerswerda viel Wald gekauft. Doch seit die Wölfe da sind, gebe es immer weniger Wild, sagt er. Und es sei schwerer zu schießen. Wildschweine seien sonst in kleinen Gruppen aus den Wäldern gekommen. Jetzt rotten sich aus Angst vor den Wölfen bis zu 60 Tiere zusammen, da könne ein Jäger nicht einfach draufhalten. Schließlich dürfe er zu bestimmten Zeiten nur bestimmte Tiere schießen. „Wir jagen ja im Gegensatz zum Wolf waidgerecht“, sagt Bachmann. „Der jagt nur, um zu fressen.“
Der Wolf wartet, bis der Vollmond hinter einer Wolke verschwindet. Dann pirscht er sich näher an die Wildschweine heran. Endlich entfernt sich ein Frischling etwas von der Gruppe. Der Wolf hat keine Zeit für den Drosselgriff, er schlägt dem Frischling die Zähne in den Rücken und rennt mit dem quiekenden Tier davon. Drei Bachen nehmen sofort die Verfolgung auf.
Jäger Bachmann hat buschige Brauen, einen mächtigen Körper, trägt das Hemd über der Brust geöffnet. Der ganze „Schwachsinn mit den Wölfen“ sei Volksverdummung, sagt er. Es habe hier immer Wölfe gegeben – in der DDR seien sie konsequent geschossen worden –, aber nie hätten sich die Tiere angesiedelt. Bachmann senkt die Stimme. „Wenn da keiner nachgeholfen hat“, sagt er, „fress’ ich drei Besen.“
"Das Wild gehört nicht den Jägern"
Immer wieder bekommt man im Wolfsgebiet zwischen Spremberg, Bautzen, Görlitz und Bad Muskau hinter vorgehaltener Hand erzählt, dass Gesa Kluth und Ilka Reinhardt die Wölfe hier angesiedelt hätten. Oder dass die Tiere auf dem Truppenübungsplatz gefüttert worden seien, um sie hier zu halten. Oder dass es sich gar nicht um Wölfe, sondern um Hybriden – Mischlinge – handele, die besonders gefährlich für Menschen seien. Tatsächlich hatte sich 2001 eine Wölfin mit einem Schäferhund gepaart und vier Junge großgezogen. Zwei verschwanden, zwei wurden eingefangen und starben später.
Jäger Bachmann hat einen Verein gegründet: Sicherheit und Artenschutz. Der Verein hat im vergangenen Jahr angebliche – sagt Ilka Reinhardt – Wolfsexperten aus aller Welt eingeladen. Die haben bestätigt, was ihr Gastgeber vermutete: Wenn die Wölfe nicht bejagt würden, verlören sie ihre natürliche Scheu vor den Menschen. Joachim Bachmann war schon 2004 vor Gericht gegangen. Er hatte darauf geklagt, einen Wolf schießen zu können. Einen einzigen, um die Bevölkerung zu schützen. Aber das Verwaltungsgericht Dresden war der Meinung, dass Bachmann nicht für den Schutz der Bevölkerung zuständig sei.
Muss die Bevölkerung geschützt werden? Laut Studie eines norwegischen Instituts gab es zwischen 1950 und 2000 in Europa neun tödliche Angriffe von Wölfen auf Menschen. In fünf Fällen waren die Tiere tollwütig.
„Experten sind sich einig, dass Wölfe die Menschen meiden, wenn Lebensraum und Nahrung ausreichen“, sagt Jana Schellenberg: „Es gibt nur zwei Risikofaktoren: die Tollwut, die in Deutschland nur noch selten auftritt. Und das Anfüttern der Tiere.“ Deshalb würden alle Hinweise aus der Bevölkerung über das Verhalten der Wölfe sorgfältig registriert. Sollten sich Auffälligkeiten zeigen, könne man sofort reagieren.
Die Kinder kennen Rotkäppchen nicht. Das ist erfreulich
Jana Schellenberg, 28, leitet das Kontaktbüro Wolfsregion Lausitz in Rietschen bei Weißwasser. Sie ist Forstwirtin, organisiert Exkursionen ins Wolfsgebiet und führt Touristen durch ein kleines Wolfsmuseum. Sie hält Vorträge in Dörfern, Schulen, auch bei den Jägern. „Natürlich ist die Jagd für sie schwerer geworden“, sagt sie. Ein Lausitzer Wolf frisst im Jahr durchschnittlich 62 Rehe, 9 Rothirsche und 14 Wildschweine. Aber die 35 Wölfe leben auf einem Gebiet von gut tausend Quadratkilometern. „Und das Wild gehört nicht den Jägern“, sagt Jana Schellenberg, „auch nicht, wenn sie Pacht bezahlen, um es jagen zu dürfen.“
Eine Museumsbesucherin fragt ihre Kinder, welches Märchen auf dem Bild neben der Eingangstür dargestellt ist. Es ist Rotkäppchen, die Kinder kennen es nicht, und Jana Schellenberg freut sich: „Dann haben sie auch keine Vorurteile.“
Für das, was sie tut, hat sie schon Morddrohungen erhalten. „Erst bringen wir die Fähen – die weiblichen Wölfe – um, dann sind die grünen Weiber dran“, stand in einem Brief an Jana Schellenberg. Auch Jäger Bachmann hat Drohungen erhalten: „Sieh dich vor, du Tiermörder!“
Die junge Wölfin läuft am Waldrand entlang. Vor kurzem hat sie sich vom Rudel getrennt, nun durchstreift sie die Rochauer Heide vor den Toren Luckaus, 80 Kilometer südlich von Berlin. Zwar ist ihr noch kein Rüde begegnet, aber bis zur Paarung im Februar sind es noch einige Monate. Die Wölfin weiß nicht, dass in diesem Moment wenige Meter von ihr entfernt ein Mensch den Zeigefinger beugt.
„Der Schuss hat sie nicht sofort getötet“, sagt Ilka Reinhardt, als sie den Obduktionsbericht der Mitte August bei Luckau gefundenen Wölfin erhält: „Sie hat sich noch ins Dickicht geschleppt.“ Erst die genetische Untersuchung wird klären, ob sie zu einem heimischen Rudel gehörte. Die Wahrscheinlichkeit sei groß, sagt Ilka Reinhardt. Die Wölfin war 15 Monate alt. Gut möglich, dass es sich bei dem Tier um einen der Welpen handelte, die Sigmar Gabriel im Juni letzten Jahres so faszinierten.
Quelle: tagesspiegel.de/